Mein Name ist Lyria, und ich bin eine Gänsegeier-Dame mit stolzen, schokoladenbraunen Federn und Flügeln, die sich über fast drei Meter spannen. Von hier oben, wo die Bergspitzen der Pyrenäen die Wolken kitzeln, habe ich alles im Blick. Der Wind ist mein Gefährte, er trägt mich über Abgründe und Schluchten, vorbei an dichten Wacholdersträuchern und knorrigen Kiefern. Doch heute weht eine seltsame Stille über die schroffen Hänge. Ein Gefühl sagt mir, dass etwas nicht stimmt – der Wind, mein treuer Begleiter, scheint verschwunden! Kaum ein Lüftchen regt sich, und das Fluggefühl fühlt sich plötzlich so schwer an, als hätten mir die Bergtrolle heimlich Steine ans Gefieder gebunden. Ich beschließe, dem Rätsel auf den Grund zu gehen.
Mein erster Weg führt mich zu meinem frechen Freund Flinn, dem Alpenkrähen-Boten. Er sitzt auf einem Felsen und lässt gelangweilt kleine Kiesel den Abhang hinunterrollen. „Der Wind ist weg? Vielleicht hat die Zauberin Nivara ihn verschlossen“, sagt Flinn und deutet mit seinem Schnabel auf die steilen Gipfel. „Ich habe gehört, sie wohnt in einer Höhle dort oben.“ Gänsegeier wie ich stehen normalerweise nicht auf Märchen, aber bei Nivara, einer Kauz-Zauberin, soll man vorsichtig sein. Also mache ich mich auf den Weg – mit Flinn, der aufgeregt flattert, hinterher. Der mühsame Flug ohne den Wind fordert meine Muskeln, aber ich lasse mich nicht entmutigen. Die Magie, die Flinn spürt, liegt wie kleine Funken in der dünnen Bergluft.
Als wir die Höhle erreichen, wird es dunkel und kühl. Die Luft riecht nach feuchtem Moos und Stein. „Nur keine Angst, Lyria“, denkt sich eine Gänsegeier-Dame wie ich, doch die Schatten tanzen unheimlich auf den Wänden. Tief drinnen hören wir eine sanfte, melodische Stimme: „Wer stört den Frieden von Nivara?“ Vor uns erscheint tatsächlich eine alte Schleiereule, ihr Gefieder schimmert golden im schwachen Licht wie die Morgensonne selbst. „Wenn ihr den Wind sucht“, sagt die Zauberin, „dann werdet ihr ihn nicht hier finden. Doch ich gebe euch einen Rat: Sucht am Ort, wo Himmel und Erde sich küssen.“ Flinn und ich blicken uns fragend an. Was könnte sie damit meinen?
Zurück im Freien überlege ich verzweifelt. Dann, plötzlich, habe ich eine Idee: „Die Ebene!“ Der Himmel trifft auf die Erde in den weiten, offenen Steppen, in denen ich einst lernte, wie wichtig der Wind für meine Reisen ist. Und tatsächlich: Als wir die ersten Gräser der Hochebene erreichen, spüre ich einen Hauch – warm und tröstlich. Da steht eine Herde Gämsen, die sich über die Ankunft des Windes freuen. Ihnen zufolge hatten Menschen in der Nähe mit lärmenden Maschinen den Wind vertrieben, aber durch unsere Hartnäckigkeit hat er sich zurückgetraut. Gemeinsam mit Flinn gleite ich über die Ebene, während der Wind unser Gefieder wieder sacht umspielt. Ich lächle, denn ich weiß: Diesen treuen Gefährten dürfen wir nie für selbstverständlich halten.
Gänsegeier können bis zu 10.000 Meter hoch fliegen – das ist höher als die meisten Passagierflugzeuge! Damit trotzen sie eisigen Temperaturen und seltenem Sauerstoff in hohen Regionen und nutzen Aufwinde, um nahezu mühelos zu gleiten.
| Name: | Gänsegeier |
| Wissenschaftlicher Name: | Gyps fulvus |
| Gewicht: | ca. 6-11 kg |
| Maße: | ca. 95-110 cm lang, Flügelspannweite ca. 230-280 cm |
| Lebensalter: | ca. 20-25 Jahre |
| Lebensraum: | Gebirge, Steppen, offene Landschaften |
| Geschwindigkeit: | ca. 50-55 km/h im Flug |
Der Gänsegeier ist ein großer, imposanter Greifvogel, der in Europa, Asien und Nordafrika vorkommt. Er hat ein auffälliges Aussehen mit einem hellen, meist weißen Kopf und Hals, der von einem dichten Kragen aus weichen Daunenfedern umgeben ist. Sein Körper ist überwiegend braun, und seine Flügel sind breit und stark, was ihm einen majestätischen Flugstil verleiht.
Gänsegeier sind Aasfresser und spielen eine wichtige Rolle im Ökosystem, indem sie die Überreste toter Tiere beseitigen. Sie haben einen ausgezeichneten Geruchssinn und scharfe Augen, die ihnen helfen, Kadaver aus großer Höhe zu entdecken. Mit ihrem kräftigen Schnabel können sie selbst dicke Haut und Knochen zerkleinern, um an das Fleisch zu gelangen. Diese Fähigkeit macht sie zu effektiven "Reinigern" der Natur.
Gänsegeier leben in großen Kolonien und nisten in hohen Felsklippen oder Bäumen, wo sie sicher vor Bodenräubern sind. Das Weibchen legt ein einziges Ei, das von beiden Elternteilen abwechselnd bebrütet wird. Nach dem Schlüpfen kümmern sich beide Eltern um die Fütterung des Jungvogels. Gänsegeier sind langlebige Vögel, die in freier Wildbahn bis zu 40 Jahre alt werden können. Ihr Schutz ist entscheidend, um die Gesundheit der Ökosysteme zu bewahren, in denen sie leben, und die Populationen dieser beeindruckenden Vögel zu erhalten.